Newsletter - 2. Sonderausgabe August 2015

Forschung und Patientenversorgung sollten Hand in Hand gehen

Es braucht mehr wissenschaftliche Daten, um komplementärmedizinische Behandlungsmethoden besser in das Gesundheitssystem zu integrieren. Dieser Meinung ist Claudia Witt, Ärztin, Professorin und Leiterin des Instituts für komplementäre und integrative Medizin an der Universität Zürich.

Frau Witt, Sie sind seit 2014 Professorin an der Universität Zürich. Was ist Ihre grösste Herausforderung bei dieser neuen Stelle?

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Claudia Witt hat als ordentliche Professorin seit Anfang 2014 den Lehrstuhl für komplementäre und integrative Medizin an der Universität Zürich inne, wo sie seither lehrt und forscht. Claudia Witt hat einen Doktortitel für Medizin und einen Master of Business Administration mit Fokus auf Management im Gesundheitswesen.

Jeder Wechsel ist eine Herausforderung, aber eine sehr spannende, der ich mich gerne stelle. Unser Institut wurde zum 1. Januar 2014 umbenannt und heisst jetzt Institut für komplementäre und integrative Medizin. Der neue Name drückt aus, worauf es mir ankommt: auf die Integration. Ziel ist, Forschung und Patientenversorgung eng miteinander zu vernetzen und eine Brücke zwischen traditionellen Aspekten komplementärmedizinischer Verfahren und moderner Technologie zu ermöglichen. Zum Beispiel untersuchen wir gerade die Wirksamkeit einer Akupressur-Smartphone-Applikation für Menstruationsschmerzen.

Komplementärmedizin ist ein sehr breites Feld und diese Tatsache stellt auch eine grosse Herausforderung dar. Ich werde häufig von Vertretern unterschiedlicher komplementärmedizinischer Verfahren angeschrieben und gebeten, entweder ihre Verfahren zu erforschen oder sie in die Patientenbehandlung aufzunehmen. Es ist nicht immer leicht, solche Anfragen abzusagen. Aber natürlich müssen wir uns beschränken und die Verfahren auswählen, die gut in unser Gesamtkonzept von Forschung und Patientenversorgung passen. Das sind bei uns die Akupunktur, die Mind Body Medicine und die Naturheilkunde mit der Phytotherapie.

Als Ärztin behandeln Sie auch Patienten. Dabei wenden Sie alternative Methoden an wie zum Beispiel Mind Body Medicine oder Akupunktur. Was sind Ihrer Ansicht nach die Stärken und Schwächen der Komplementär- und Alternativmedizin (KAM)?

Es ist schwierig, hier über Komplementärmedizin als Gesamtes zu sprechen, da die komplementärmedizinischen Verfahren sich doch sehr stark unterscheiden. Zu manchen Methoden wie zum Beispiel zur Akupunktur gibt es positive Forschungsergebnisse, zu vielen anderen fehlen jedoch wissenschaftliche Daten.

Ich möchte die Relevanz der Komplementärmedizin gerne am Beispiel der Mind Body Medicine verdeutlichen. Faktoren wie Vererbung, Umwelteinflüsse, Stress und Lebensweise beeinflussen unsere Gesundheit. Das Konzept der Mind Body Medicine wurde Ende der 1960er Jahre in den USA an der Harvard Medical School und am Massachusetts General Hospital entwickelt, hat aber ganz klare Verbindungen mit der Ordnungstherapie in der Naturheilkunde. Der Fokus dieses medizinischen Konzepts liegt auf der Wiederherstellung der Balance zwischen Körper und Psyche. Die Mind Body Medicine zielt darauf ab, die Lebensweise so zu verändern, dass sowohl die Gesundheit gefördert als auch die Ressourcen gestärkt werden. Zu den wichtigsten Säulen der Behandlung gehören Ernährung, Bewegung (unter anderem Yoga und Qigong), Entspannung (zum Beispiel achtsamkeitsbasierte Verfahren) und komplementärmedizinische Selbsthilfestrategien wie beispielsweise Akupressur oder Tees und Wickel. Diese Beschreibung zeigt deutlich, dass die Mind Body Medicine sehr gut mit der konventionellen Medizin kombiniert werden kann.

Wenn ich als zweites Beispiel die Akupunktur betrachte, dann ist es ähnlich: Als nicht-medikamentöses Verfahren kann Akupunktur zum Beispiel sehr gut in eine Schmerztherapie integriert werden. Zu den Schwächen komplementärmedizinischer Verfahren gehört sicherlich, dass wir bisher die Wirkmechanismen nicht genau kennen. Wir wissen zwar mittlerweile, dass zum Beispiel Patienten mit Rückenschmerzen von Yoga-Übungen oder Akupunktur profitieren, aber wir können nicht den ganz genauen Mechanismus erklären.

Im Jahr 2009 wurde in der Schweiz die KAM in die Verfassung aufgenommen. Zu den Kernforderungen des Verfassungsartikels gehört auch die Forderung, Lehre und Forschung der KAM sicher zu stellen. Merkt man davon etwas an der Universität? Hat die KAM hierzulande einen anderen Stellenwert als z.B. in Deutschland oder den USA?

Aus meiner Sicht ist die Situation in der Schweiz einzigartig: Soweit ich weiss, ist es das einzige Land, in dem das Thema Komplementärmedizin über einen demokratischen Weg angegangen und die Entscheidung des Volkes dann auch in der Verfassung verankert wurde.

Inwieweit die Komplementärmedizin in Lehre und Forschung vertreten ist, kommt ganz darauf an, über welche Universität wir sprechen. Es gibt da grosse lokale Unterschiede. Das trifft sowohl auf die Schweiz zu, als auch auf Deutschland und die USA. Wenn es um die Forschungsförderung geht, sind die USA uns weit voraus. Die National Institutes of Health, die wichtigste Behörde für biomedizinische Forschung in den USA, haben ein eigenes Institut für komplementäre und integrative Medizin mit einem Budget von etwa 130 Millionen US-Dollar, welches die Forschung im Bereich Komplementärmedizin fördert. Weder in der Schweiz noch in Deutschland gibt es einen entsprechenden Förderschwerpunkt.

Auch wenn man die Lehre betrachtet, bekommt man ein sehr heterogenes Bild. Wir haben an der Berliner Charité zum Beispiel immer Pflichtveranstaltungen für alle Studierenden der Medizin gehabt. Das lag aber daran, dass es im entsprechenden Curriculum möglich war und wir uns sehr dafür engagiert haben. In den USA werden, soweit ich das überblicke, nur freiwillige Kurse angeboten mit sehr unterschiedlicher Stundenzahl. Auch in der Schweiz wird das nicht einheitlich gehandhabt. Wir stehen diesbezüglich mit den anderen Universitäten in engem Kontakt und sehen hier Potenzial, die Studierenden in Zukunft besser und breiter zu unterrichten.

« Die Schweiz ist das einzige Land, in dem das Thema Komplementärmedizin über einen demokratischen Weg angegangen und in der Verfassung verankert wurde. »

Sie sind sehr aktiv in der KAM-Forschung. In welchen Gebieten forschen Sie und was sind Ihre Haupt-Fragestellungen?

Ich habe in den letzten 17 Jahren sehr unterschiedliche Studien durchgeführt, sowohl hinsichtlich der komplementärmedizinischen Verfahren als auch der Forschungsmethoden, die ich angewendet habe. Mein Forschungsschwerpunkt war und ist die Akupunkturforschung. Erst habe ich grosse Studien zu Wirkung, Nebenwirkungen und Kosten-Effektivität der Akupunktur machen dürfen. In den letzten Jahren interessiert mich zusätzlich, ob das menschliche Gehirn anders reagiert, wenn man Nadeln in die richtigen Akupunkturpunkte oder in Scheinpunkte einsticht. Hier konnten wir sowohl in einer Meta-Studie als auch in Versuchen mit bildgebenden Verfahren schon einige Hinweise dafür erbringen, dass Unterschiede im Gehirn sichtbar sind. Zu der Frage forschen wir auch gerade in Zürich.

Aber auch die Mind Body Medicine ist für mich ein wichtiger Forschungsbereich. Ich habe bereits Studien zu Yoga und Qigong durchgeführt und widme mich gerade den Entspannungsverfahren. Dabei geht es um die Frage, ob man diese auch über Smartphone Applikationen wirksam vermitteln kann, um Schmerzen zu reduzieren oder auch die Lebensqualität von Krebspatienten zu verbessern.

Was muss Ihrer Meinung nach geschehen, damit die KAM in der Schweiz noch besser in das Gesundheitswesen integriert wird?

Aus meiner Sicht braucht es für eine wirkliche Integration verschiedene Voraussetzungen. Der politische Wille gehört dazu und der ist in der Schweiz besser als in den meisten anderen Ländern gegeben. Ganz wichtig ist jedoch, dass die verschiedenen Stakeholder in der Gesundheitsversorgung sich gegenseitig respektieren, dass sie versuchen, die Kultur des jeweils anderen zu verstehen und dass sie gemeinsam den Patienten in den Mittelpunkt stellen und dessen Werte und Wünsche respektieren.

Ausserdem brauchen wir meiner Meinung nach mehr Forschungsdaten zur Komplementärmedizin, damit wir alle drei Säulen der evidenzbasierten Medizin nutzen können, um gemeinsam mit unseren Patienten eine Entscheidung für die Therapie zu treffen. Nach David Sackett, dem Begründer der evidenzbasierten Medizin, sind die drei Säulen:

1. die Werte und Wünsche meiner Patienten,

2. die ärztliche klinische Expertise,

3. Daten aus der klinischen Forschung.

Es wurde zwar in den letzten zwei Dekaden sehr viel mehr zur Komplementärmedizin geforscht und publiziert, trotzdem ist die dritte Säule noch recht instabil und es bedarf weiterer Forschung.


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